Leere

Leere.

Der Weinausflug war viel zu früh im Tag beendet, der Zwanzigjährige vor der Nordbrücke abgeliefert und unversehens alleingelassen. Aus dem episodischen Alleinwerden durch Abwatscheln irgendwelcher Verwandt- und Bekannter rutschte der Zwanzigjährige augenblicklich ins große Alleinsein. Die Tage der Mädchen lagen weit hinter und vor ihm. Der Wein war gut und stark gewesen, aber streng, wie zugelassene Freuden für einen Mönchsorden. Nun wurden die Augen scharf für die Landschaft, die zuvor durch Geplauder und Gestichel hübsch durchscheinende; nein, für die plötzlich sich auftuende groß-, leere.

Nicht mehr Gäßchen mit Häuschen und Menschlein und Gärtchen und Weglein und Blümchen und Kätzchen und Hündchen und einem Bäumchenhorizont, sondern Die Brücke, das räudige endlos breite Überschwemmungsgebiet, Der Strom, wieder das Überschwemmungsgebiet, klein am drübern Ufer auslaufend die nichtmehr zu beachtende Stadt, rechts aber die Weite, die Sicht auf stundenweit entfernte kleine beim Annähern mächtigwerdende Hügel und den ganz klein werdenden, beim Annähern riesigwerdenden Strom. Hier gab es als Schaueinheit nicht den Zweig, das Dach, das Kleid, sondern den Hügel, den Himmelsabschnitt, den Flußkilometer. Bei solcher Ausweitung des Blicks schrumpft das Detail ins Unsichtbare. Nahgesehene Bewegung erstarrt. Die Natur liegt nicht idyllisch, sondern wie ein Stein da. So wie die Gesamtheit aller Idyllen ein Punkt (:ein Stern) ist.

Wo sind die Menschen geblieben? Der Zwanzigjährige machte sich daran, den optischen Untergang der Menschheit aufzuhalten. Er analysierte den Landschaft-Stein mit vergrößernder Optik. Die Belebung stieg zaghaft. Die Hügel dort wurden vielfältig, vielfleckig, vielhügelig, auch mit Häusern besprenkelt; Sonne glitzerte in fernen Scheiben, ein Chemiewerk rauchte schmutziggelb Chemie in die Luft. Aber: erreichbar lag das Spielzeug nur, solange es spielzeugklein war; von hier aus. Streckte man sich danach, machte sich auf den Weg, es großzuhaben und zu erreichen, die Häuser umhüllend zu spüren und nicht als Krümel, die Mädchen als bettgroße Partnerinnen, ansprechbar, Lebensaufgabe und nicht als submikrone Läuse, wurde es unerreichbar fern. Dies zeigten die Schlepper, die unter der Brücke noch durchfuhren, aber in einiger Entfernung stillzustehen begannen; in einem fernen Flußstück stand eine Schleppgarnitur, die zu Beginn des Ausflugs unter der Brücke gefahren sein mochte.

Und wie aussichtsarm für den Menschensuchenden war die so aussichtsreiche Welt an der Brücke. In Stunden und Stunden pechzähen Marsches Erreichbares — was war es? Dünnste Besiedlung. Endlose Landschaften. Die Waldhügel ein einziges Dementi. Selbst in der Häuschenspur alles Menschliche so reduziert. Schläfriges. Abgearbeitetes. In den Boden Starrendes. In festen Formen Funktionierendes. Keine freien Valenzen. Jede Vierzehnjährige schon fest verkauft und verkettet. Keine Meteore zu erwarten. Keine Treffpunkte, Willkürlichkeiten, Möglichkeiten. Wurzelkosmos, nichts für Entwurzelte. Dem Zwanzigjährigen war nach freier Marktwirtschaft, Chance, lmprovisation; Kondensation von Lebendigem, Verkehrsdichte, Promiskuität um der »Einzigen« willen.

J. kam auf einen wichtigen Grund dieses merkwürdig verallgemeinernden Eindrucks, dieser Vision von unerlösendem Land: Es fehlten die lebhaften Farben, die menschlichen, erotischen, die Farben von versuchendem, begeisterndem Gespräch, von Freiheitserprobung. Die grau-grün-blaue Urlandschaft bewegte sich auch spektralanalytisch nicht. Keine Eruptionen von da Riesenblumen, dort einem dottergelben Buch, dort einem grellroten Kleid. Bei dem Gedanken an Rot empfand J. einen Stich. Der Entbehrungsgedanke war jenem ebenbürtig, der den sehr seltenen geglückten Ehen mit angenehmen Frauen in seiner Nachbarschaft galt; dem Gedanken an Ausgesperrtsein und Versäumthaben. Fehlen von Rot.